Immer mehr Markenmacher, vom Unternehmenschef über den Marketingverantwortlichen bis hin zum Kreativen in der Agentur, sind sich jedoch im Klaren, dass mit starren visuellen Einheitskonzepten heute keine Punkte mehr bei den Zielgruppen zu holen sind. Man beginnt aktiv, bekannte Corporate-Design-Werkzeuge wie Farben, Schriften oder Formen in konzeptioneller Hinsicht grosszügiger zu fassen, beginnt, CD-Elemente maximal zu variieren und Bildwelten auszuweiten. Manchmal kann das sogar dazu führen, dass der visuelle Auftritt einer Marke durch Logo und Schrift in den Hintergrund tritt. Dann gewinnen flankierende Massnahmen, wie etwa die Gestaltung von Shops, in denen die Marke vertrieben wird, an Bedeutung. Stichwort: Fluid Branding.
Grundsätzlich gilt: Der visuelle Auftritt, das sogenannte Corporate Design, vermittelt im Idealfall auf emotionale Art die Botschaften eines Unternehmens, einer Marke. So entsteht Identität. Das Corporate Design transportiert eine Erlebniswelt und macht die Marke greifbar – auf unverkennbare Art und Weise. Aus diesem Grund sind die Ansprüche eines gelungenen Corporate Design schon immer hoch. Es soll mehr sein als ein Haufen neuer Briefbögen oder ein rasch im Photo Shop zusammengebasteltes Firmenlogo. Mit Hilfe verschiedener, professionell genutzter Elemente wie Naming, Logo, Typografie, Farbwelt oder Bildsprache positioniert ein Unternehmen sich und seine Marke auf einzigartige Weise. Und grenzt sie so deutlich vom Wettbewerber ab.
Unaufdringliche Flexibilität
Ein Beispiel für unaufdringliche Flexibilität beim Erscheinungsbild ist der Auftritt des Schauspielhauses Zürich. Der preisgekrönte Auftritt wurde für die Spielzeit 2009/10 entwickelt. Sein grafisches Zentrum bildet eine schlichte schwarze Scheibe, die in vielseitigen Anwendungen in allen Medien auftaucht. Zum Beispiel als Dachwerbung auf einem Tram der Zürcher Verkehrsbetriebe (Februar-Juni 2014) oder als Karte für die Bewerbung des 5er-Abos. Begleitend zur Karte wurden Plätze im Zuschauerraum mit den auf der Karte abgebildeten Hussen verkleidet (Aktion Mai/Juni 2013). Das CD für die Schauspielhaus Zürich AG liegt heute bei der Graphikagentur Velvet, Luzern.
Ein weiteres Beispiel, viel extremeres Beispiel, findet sich beim Musikkanal MTV. Hier wird gegen sämtliche Grundsätze eines «typischen Logos» verstossen. Weder Einheit bei der Farbe noch bei der Form bleiben bestehen. Stattdessen setzt man auf schrille Vielseitigkeit und Stilmix. Mit Erfolg. Gerade so verkörpert MTV Vitalität, Jugendlichkeit und Schnelllebigkeit seiner Zielgruppen – und ist doch immer unverkennbar.
Über das Visuelle hinaus
Der Begriff der «Fluid Brands» darf sogar weiter gefasst werden, als lediglich einen visuellen Auftritt flexibel zu gestalten. So kann er auch bedeuten, regionale und kulturelle Eigenarten in das Markenumfeld, in dem die Marke wirken soll, einzubeziehen. Ein Beispiel dafür ist Starbucks. Der Kaffee-Anbieter bleibt beim visuellen Auftritt weltweit seinem Gesamtkonzept treu. Doch macht er einen Spagat Richtung Marketing und Merchandising, indem er beim Speiseangebot in den einzelnen Starbucks-Filialen länderspezifische Vorlieben berücksichtigt. In Grossbritannien erhält man zu seinem Kaffee dann eben Shortbread, in Frankreich Brioches, in Mexiko Envueltos … und dieses Angebot wird natürlich mit unterschiedlicher Optik visuell präsentiert. Gerade für ein Unternehmen, dem es darum geht, sich in der globalisierten Welt besser zu positionieren, scheint dieser Ansatz klug. Denn er steigert das Potenzial zur Identifikation bei kulturell verschiedenen Zielgruppen und transportiert ihnen eine klare Botschaft: Nämlich ein vitales, veränderliches Unternehmen zu sein mit einer Vielzahl von lebenden und sich an Umfelder anpassende Identitäten.
Vorsicht: Wildwuchs
Die Idee der «Fluid Brands» ist faszinierend, vielseitig und eröffnet grossartige kommunikative Möglichkeiten. Im Kleinen hat man diese ohnehin immer schon genutzt. Und auch heute tun viele Unternehmen dies, ohne es allerdings zu merken. Ein gutes Beispiel dafür sind zahlreiche Internetseiten, auf denen Unternehmen verschiedene Produkte oder Geschäftsbereiche mit Animationen präsentieren und die Vorgaben des CD-Manuels sehr grosszügig auslegen. Einer der «Grossen», der vormacht, wie’s geht, ist Google mit seinen täglich wechselnden Schriftzügen.
Noch ist nicht vorhersehbar, ob sich das «Fluid Branding» als konsequentes Vorgehen für den Umgang mit dem eigenen Corporate Design etabliert. Vielleicht dominiert es irgendwann tatsächlich die visuelle Präsentation von Marken und Produkten. Ganz gemäss dem Grundsatz «Identität durch Diversität». Dennoch wird es wohl immer auch Unternehmen geben, die zum Wohl ihrer Produkte und Dienstleistungen auf sehr klare und feste Auftritte setzen. Weil sie damit sich selbst am besten gerecht werden und zugleich den Zielgruppen den Zugang zur Marke erleichtern.
Die Frage, ob «Fluid Branding» einen Markenauftritt besser oder schlechter macht, stellt sich also nicht. Denn nach wie vor haben verschiedene Marken verschiedene Ansprüche an ihren Auftritt. Was sich aber klar sagen lässt: Ein solides Ausgangs-Corporate-Design, mit dessen Inhalten man − auch mal «fluid» − arbeiten kann, bildet mehr denn je das Fundament für erfolgreiche Markenauftritte.
PDF: Mensch Marke Magazin: Fluid Branding